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Am Anfang waren die Zeichnungen – als Kritzeleien im Matheheft meines Sohnes Valentin. Dann haben wir uns gemeinsam dazu eine Geschichte ausgedacht. Das war im Jahr 2004.
Nun habe ich DAS KRAKELSPEKTAKEL ins ePub-Format übertragen und mit den Möglichkeiten dieser digitalen Publikationsform herumgespielt.
Ein Projekt mit Unterstützung eines Arbeitsstipendiums im Rahmen des Programms Kultur ans Netz.
Die Web-Version kann hier gelesen werden:
KRAKELSPEKTAKEL
oder das Leben hinter den Mathekästchen
Als Valentin am Dienstag in der fünften Stunde eine Aufgabe in sein Matheheft schrieb und gerade anfangen wollte, sie zu lösen, geschahen merkwürdige Dinge. Irgendwoher aus der Ferne hörte er Trommeln. ,Quatsch’ dachte er und betrachtete die Zahlen und Symbole vor sich auf dem Papier, fest entschlossen, sich nicht ablenken zu lassen. Aber je mehr er versuchte, sich zu konzentrieren, umso wilder wurde das Getrommel.
Bald zitterten die Kästchen, die Ziffern sprangen durcheinander und machten, was sie wollten. Während immer lauter geheimnisvolle Rufe durch die Seiten drangen, verwandelte sich die Aufgabe vor Valentins Augen zu einer rätselhaften Zeichenverschwörung. Schließlich tauchten – von Kriegsgebrüll und bebenden Rhythmen begleitet – Schatten auf dem Heftrand auf.
Erschrocken riss sich Valentin von dem unglaublichen Geschehen los und sah sich im Klassenraum um – er erwartete eine wütende Lehrerin und johlende Mitschüler. Aber ihm begegnete grüblerische Stille. Die anderen Kinder saßen – Stifte knabbernd, träumend oder Haare raufend – über die Aufgabe gebeugt und bemerkten die anrückende Gefahr in Valentins Matheheft nicht. Von der Lehrerin war nur ein Haarbüschel zu sehen, das hinter den Heftstapeln auf dem Lehrertisch hin und her wanderte.
Er atmete tief durch. Ganz langsam führte er seinen Blick zurück zur Aufgabe. Er hielt dabei den Kopf ein kleines bisschen schräg, damit er den Heftrand nicht anschauen musste. Zuerst sortierte er die durcheinander gepurzelten Krakel und machte daraus lesbare Ziffern. Schon stand die Aufgabe deutlich vor ihm und nichts konnte ihn nun noch aufhalten, die Entscheidung für den richtigen Lösungsweg zu treffen. Er setzte den Stift an …
… da erzitterte das ganze Heft von einem Trommelwirbel. Während sich der Füller in die Seite bohrte, flog Valentins Blick zum Heftrand und erstarrte: winzige tintenblaue Strichmännchen tanzten von Kästchen zu Kästchen. Sie schwangen ihre Waffen und trommelten auf das Liniengitter des Matheheftes ein. Mit angriffslustigem Gebrüll näherten sie sich der Aufgabe. Da flog auch schon der erste Pfeil und sauste nur knapp an den Zahlen vorbei.
Der zweite Pfeil traf eine 8 – sie taumelte, riss die benachbarte 2 um und stürzte hinab in die nächste Zeile. Die Tintenmännchen stimmten ein Siegesgeheul an und fuchtelten wild mit den Lanzen herum, die jeden Moment auf die Ziffern herabsausen und die Aufgabe endgültig niedermetzeln würden …
„Neeeiiin!“
Der Schrei löste sich aus Valentins Kehle wie ein Pfeil von einer zum Zerreißen gespannten Bogensehne und scheuchte das ganze Klassenzimmer auf. Die Kinder schauten ihn erschrocken oder kichernd an. Die Lehrerin schritt missbilligend auf ihn zu, ergriff sein Heft und hielt es für die ganze Klasse sichtbar nach oben.
„Ein interessanter Lösungsvorschlag!“
Ein riesiger Tintenfleck hatte sich auf der Seite breit gemacht und war kurz davor, die Aufgabe zu verschlingen. „Schade nur, dass ich das Ergebnis nicht lesen kann! Verrate es uns doch bitte.“
Sie knallte das Heft vor ihm auf den Tisch. Amüsiert stellte sich Valentin vor, wie die kleinen Tintenmännchen bei dem Aufprall durcheinander flogen und zischte ihnen zu: „Das habt ihr nun davon!“
Die Lehrerin holte hörbar tief Luft, baute sich noch ein Stückchen größer vor ihm auf und durchbohrte ihn dann mit einem scharfen „Wie bitte?“
Valentin starrte vor sich hin und fragte sich, warum sie ihn und nicht die Angreifer anschrie: „Hast du uns etwas zu sagen?“
Sein Blick wanderte über die Heftseite, auf der außer dem Tintenfleck und jeder Menge fragwürdiger Krakel keine Spuren des Gemetzels zu sehen waren. Wie sollte er der Lehrerin erklären, warum er noch nicht dazu gekommen war, die Aufgabe zu lösen? „Das ist feige!“ brach es aus ihm heraus. „Jetzt reicht’s!“ donnerte sie auf ihn herab. „So schnell kann man sich eine Zensur verdienen!“
Nachdem die Lehrerin die Sechs ins Klassenbuch eingetragen hatte, verschwand sie wieder als wanderndes Haarbüschel hinter den Heftstapeln. Valentin hatte noch immer den starren Blick auf das Papier gerichtet und fühlte den Klumpen in seinem Hals immer größer werden. Er wollte ihn herunterschlucken – es gelang ihm nicht. Eine eisige Hülle hatte sich wie ein Panzer um ihn gelegt, als gehöre er nicht mehr zu diesem Dienstag, fünfte Stunde Mathematik. Die Welt flog an ihm vorbei; er nahm nichts wahr als das Pulsieren, das irgendwo in seinem Kopf entstand und überall in ihm widerhallte, als wäre sein ganzer Körper ein Gewölbe aus steinernen Mauern …
… irgendwann ließ das Dröhnen nach und wurde zu einem versöhnlichen Pochen. Ein Anklopfen fast. Ein vorsichtiges Fragen, ob man stören dürfe. Noch gab Valentin keine Antwort, aber er schlug auch nicht das Heft zu, als die Tintenmännchen wieder herangeschlichen kamen.
Diesmal schwangen sie Friedenspfeifen und tanzten einen verschwörerischen Tanz um die verwundete Aufgabe. Sie murmelten und summten, ihre Trommeln schnarrten und lockten. Langsam kam Bewegung in die Kleckse und Krakel. Ein listig züngelndes Feuer prasselte an der Stelle, wo gerade noch der Tintenfleck geglänzt hatte. Zuckte da in den Flämmchen ein Haarbüschel auf?
Als die winzigen Tintenmännchen sich in die Deckung des Heftrandes zurückzogen, hinterließen sie Ziffern und Zeichen, die gerade und stolz in den Kästchen und Zeilen auf ihre Auflösung warteten. Vom Heftrand flüsterte und trommelte es nun beschwörerisch auf die Aufgabe ein, die vor Spannung und Erwartungsfreude zu flimmern begann.
Der Füller wurde mit freudigem Rasseln begrüßt, als er die ersten vorsichtigen Striche über das Papier zog. Leiser Trommelwirbel begleitete die Denkpausen und jeder richtige Zwischenschritt rief einen kleinen Jubel hervor. Wenn sich Schussligkeiten einschleichen wollten, erhob sich ein Gemurmel und schon sausten Pfeile heran, die die fehlerhaften Zeichen zu Fall brachten.
Nach spannungsvollen Minuten aus Beschwörung und Stille, aus Hoffen und Bangen zog der Füller seine Doppellinie unter das vierstellige Ergebnis. Jetzt verstummte jede Trommel, alle Tintenmännchen hielten den Atem an und verfolgten mit höchster Aufmerksamkeit die Kontrollrechnung, die Valentin mit sicherer Hand in die Kästchen eintrug. Eine letzte Ziffer, ein vergleichender Blick …
… wie eine Lawine rollte das Siegesgeheul vom Rand aus über das Blatt, begleitet von Trommelkanonaden und einem Feuerwerk von Pfeilen. Valentin selbst tanzte mit den Tintenmännchen um die Wette und ließ seine lautesten Schreie erschallen, als plötzlich dem Spektakel der Boden unter den Füßen weggerissen wurde …
… die Lehrerin blätterte grimmig in Valentins Matheheft. Wie gefesselt saß er auf seinem Stuhl und nur die zuckenden Füße gaben die freudige Erregung leise klopfend ans Stuhlbein weiter. Nachdem die Lehrerin mit strengem Blick geprüft hatte, dass Valentin nicht bei seinen Nachbarn abgeschrieben haben konnte, legte sie das Heft mit spitzen Fingern vor ihm auf den Tisch, drehte ohne ein Wort zum Schreibtisch ab und tauchte unter.
Seitdem tobt das trommelnde Volk von tintenblauen Strichmännchen durch Valentins Schulhefte. Sie verbünden sich mit ihm gegen hartnäckige Zahlenblockaden und Buchstabenverschwörungen. Ihre Pfeile greifen dickköpfige Schusselfehler an und ihre listigen Beschwörungen halten schreiende Erwachsene fern. Manchmal machen sie sich einen Spaß daraus, auf dem Heftrand sitzen zu bleiben, wenn jemand anderes hineinschaut. Das kann gefährlich werden, denn wenn sie Pech haben, landen sie im Papierkorb oder werden von einem roten Strich schwer verwundet. Meistens aber zeigen sie sich nur für Valentin und ziehen ihn mit sich in ihre kämpferische, fröhliche Welt.
Zeichnungen
Valentin Tornow
Idee und Text
Anke Tornow
Valentin Tornow
Halle 2004 / 2021